Eine Fahrt wider das Vergessen

Wie arbeitet man die Verbrechen der NS-Zeit heute weiter auf? Und wie bezieht man Jugendliche in diese Arbeit mit ein? Die Hallische Projektgruppe „Tagebuch der Gefühle“ widmet sich diesen Aufgaben. Die eigene Recherche an den Orten des Geschehens steht dabei immer im Mittelpunkt. Im Mai 2022 fuhr die Gruppe dafür zur Gedenkstättenexkursion nach Berlin.

Mit Spannung und Neugier im Gepäck ging es am Freitag, den 27. Mai für vierzehn Jugendliche und drei Betreuer*innen von Halle (Saale) mit dem Zug nach Berlin. Für einige war es der erste Besuch in der Hauptstadt. Die Neugier auf das kommende Wochenende war entsprechend groß. Auf dem Programm standen historische Orte, Mahnmale und Gedenkstätten, die sich mit den NS-Verbrechen gegen die jüdische Bevölkerung, aber auch mit dem Widerstand gegen das begangene Unrecht beschäftigen.

Viel Zeit zum Ankommen blieb der Gruppe nicht. Kaum in der Jugendherberge die Koffer abgestellt, ging es gleich weiter zur ersten Station an der „Alten Synagoge“.
Bemerkenswert für viele der Teilnehmenden war die jahrhunderte-alte Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland und wie die jüdische Kultur das Leben bis heute geprägt hat. Anschließend besuchte die Gruppe das Denkmal „Frauen in der Rosenstraße“. Die Skulptur steht exemplarisch für die nationalsozialistische Rassen-diskriminierung und die bürokratisch organisierte Deportation jüdischer Menschen in Konzentrationslagern. Besonders beeindruckt hat die Jugendlichen der mutige Widerstand von Angehörigen gegen die Deportation ihrer Verwandten, der im Jahr 1943 den Einschüchterungen der NS-Polizei trotzte.

Zum Abschluss des Freitages besuchte die Gruppe das Berliner Denkmal „Züge in das Leben – Züge in den Tod“, das an die Rettung jüdischer Kinder ins Ausland vor der Deportation in Konzentrationslager erinnert. Thematisiert wurde insbesondere die Traumatisierung der Kinder, die trotz Rettung vor dem Tod von ihren Eltern und Verwandten getrennt waren und oftmals nichts über deren Schicksal wussten.
Viel Stoff zum Nachdenken, aber auch zum traurig- und wütend-Sein hatte die Gruppe im Gepäck, als es am Abend wieder in die Jugendherberge zur gemeinsamen Auswertung ging. Mit dem Schreiben der eigenen Tagebücher verarbeiteten die Jugendlichen das Erlebte und bereiten damit die Grundlage für die eine aktuelle Aufarbeitung der NS-Verbrechen aus ihrer persönlichen Perspektive.

Am Samstag fuhr die Gruppe mit der S-Bahn zum Bahnhof Grunewald, von welchem jüdische Menschen aus Berlin in die Konzentrations- und Vernichtungslager in Osteuropa deportiert wurden. Das Mahnmal „Gleis 17“ erinnert an den antisemitischen Vernichtungswillen und den besonderen „Enthusiasmus“ des damaligen Berliner Gauleiters und NS-Propagandachefs Joseph Goebbels Berlin „judenfrei“ zu machen. Um den Opfern von damals zu gedenken, hatte die Gruppe im Vorfeld eine eigene Gedenkzeremonie am „Gleis 17“geplant, die mit einer Kranzniederlegung an der Gedenktafel für die Deportierten ihren Abschluss fand.

Um zu verdeutlichen, dass es auch Beispiele für mutigen Widerstand gegen das NS-Regime gab, wurde im Anschluss die Blindenwerkstatt „Otto Weidt“ besucht. Der Kleinfabrikant Otto Weidt versuchte seine jüdischen Mitarbeiter*innen vor der NS-Verfolgung zu schützen und zu verstecken. Die Erläuterungen über seinen couragierten Einsatz riefen bei den Teilnehmenden großer Anerkennung hervor. Gleich neben der Werkstatt befindet sich das Anne-Frank-Zentrum, welches von den Jugendlichen eigenständig besucht wurde. Die Teilnehmenden hatten die Aufgabe, selbstständig über das Schicksal Anne Franks zu recherchieren und die Ergebnisse bei dem abendlichen Auswertungsgespräch zusammenzutragen. Wie auch am ersten Abend waren am Ende des Tages alle ziemlich platt. Viele zum Teil erschütternde Eindrücke, neue Informationen und lange Fahrten durch Berlin haben ganz schön geschlaucht. Froh waren trotzdem alle, dabei gewesen zu sein.

Ein Jugendlicher fasste Stimmung im Nachhinein so zusammen:

„Ich fand die Erkenntnisse und Erlebnisse und das, was wir erfahren haben über die Synagogen in Berlin, sehr gut, auch das in der Blindenwerkstatt von Otto Weidt, wo wir waren. Das Gleis 17 war so aufregend, was ich gesehen habe, aber auch gehört habe und wo wir den Kranz abgelegt haben, das war ein gutes Gefühl, weil wir das richtige tun. Ich fand es sachlich und fachlich war es sehr gut gewesen. Schön war es, dass wir uns alle so gut verstanden hatten. Wir waren richtig eine tolle Gruppe…“.

Bevor am Sonntag der Zug wieder zurück nach Halle fuhr, besuchte die Gruppe die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße als Symbol für das Weiterbestehen jüdischen Lebens in Deutschland. Zum Abschluss wurde das Mahnmal für die Ermordeten Sinti und Roma neben dem Reichstagsgebäude besichtigt.

Hier verdeutlichten die Referenten noch einmal, dass sich die menschenverachtende Rassenideologie des Naziregimes nicht auf jüdische Menschen beschränkte und dass vorhandene Stigmatisierungen immer wieder genutzt werden können, um beliebige Menschengruppen herabzuwürdigen

Auf der Zugfahrt gen Halle wurde meist in Zweigesprächen noch ein wenig über das Erlebte geredet. Viele nutzten die Gelegenheit aber auch, um ein wenig zur Ruhe zu kommen und die Erfahrungen erst einmal sacken zu lassen.

Für die Weiterarbeit am „Tagebuch der Gefühle“ war die Fahrt in jedem Fall ein wertvoller Baustein. Die Orte des Geschehens konnten real besucht werden. Vielen Dank an die Respekt!-Initiative, dass ihr uns diese Exkursion mit ermöglicht habt! Wir bleiben am Thema dran.

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