Unter Präsident Santos begann im Jahr 2012 ein nationaler Friedensprozess zur Beilegung des mehr als fünfzig Jahre andauernden bewaffneten Konflikts in Kolumbien. Dabei verhandelten die Regierung Santos und das Sekretariat der Guerillaorganisation FARC-EP. Es kam zu einem Waffenstillstand. Seitdem hat sich die soziale Situation in Kolumbien nicht verbessert und die enorme soziale Ungleichheit und daraus resultierende gesellschaftliche Spaltung hält bis heute an. Gewerkschafter:innen bzw. Soziale Aktivist:innen sind Repression und Gewalt durch Staat und paramilitärische Gruppen ausgesetzt. Kolumbien gehört zu den Top-Ten Ländern weltweit, in denen Gewerkschaften verfolgt und kriminalisiert werden. Seit den 70er Jahren sind über 3500 Gewerkschafter:innen ermordet wurden. Neben den Gewerkschafter:innen werden auch Menschenrechtsaktivist:innen systematisch verfolgt und ermordet.
Wir, vier deutsche Gewerkschafter:innen des Vereins Aprender Juntos e.V., machten uns vom 9. bis 22. April auf den Weg nach Bogotá und Medellin, um Gesicht zu zeigen und somit unsere kolumbianischen Genoss:innen vor Ort zu unterstützen und ein Zeichen gegen Repression und Gewalt zu setzen.
In Bogotá, der ersten Station unserer Reise, trafen wir verschiedene Gewerkschaften und Organisationen, die uns wertvolle Einblicke in die Situation von Gewerkschaften sowie die derzeitige Arbeitsmarktlage und deren Auswirkung auf die Bevölkerung gaben. Die Mehrheit der kolumbianischen Bevölkerung arbeitet im informellen Sektor unter miserablen Bedingungen und ohne Arbeitsschutz und ist besonders von extremer Armut (unter zwei Euro/Tag) betroffen. Dies hat auch Auswirkungen auf die Rente: Nur 1,9 Millionen Menschen erhalten eine solche, wenn auch 7 Millionen das Rentenalter erreicht haben.

Nach einigem Warten und dank unserer Hartnäckigkeit fand unser geplantes Treffen mit dem Vize-Arbeitsminister, Edwin Palma Egea, statt, der selber in Tarifverhandlungen mit den Beschäftigten des Arbeitsministeriums steckte. In allen Ministerien gibt es 23 verschiedene Gewerkschaften! Diese Zersplitterung, ein Problem in Kolumbien, schwächt nicht nur hier die Verhandlungsmacht. Einmalig in der Geschichte ist, dass das Arbeitsministerium aktuell gleich von zwei Gewerkschafter:innen bekleidet wird. Auch die Arbeitsministerin ist Gewerkschafterin. Die zurzeit verhandelte Arbeitsreform sei deshalb eine Gewerkschaftsreform, so der Vize-Arbeitsminister, der selber mit 20 Jahren nach einem Streik der Ölarbeiter inhaftiert wurde. Von diesem einst kämpferischen Gewerkschafter war in diesem Gespräch leider nicht mehr viel zu spüren. Auf unsere Fragen zur Bekämpfung der Gewalt gegenüber Gewerkschafter:innen und des informellen Sektors erhielten wir lediglich oberflächliche Antworten.

Dafür debattierten wir anschließend bis Mitternacht mit der Erdölgewerkschaft La Unión Sindical Obrera de la Industria del Petróleo (USO), den ehemaligen Genoss:innen des Vize-Arbeitsministers. Die USO ist eine der ältesten Gewerkschaften Lateinamerikas und feiert dieses Jahr 100-jähriges Jubiläum. Eine der konfliktreichsten Regionen in Kolumbien ist die Stadt Barrancabermeja, wo das meiste Erdöl gefördert wird. Dabei ist die Tradition der Gewerkschaft durch eine Ausrichtung geprägt, die nicht nur betriebliche Kämpfe, sondern auch gesellschaftspolitische Ziele verfolgt. So wurde beispielsweise 1948 ein 60-tägiger Streik durchgeführt, um dafür zu sorgen, dass das größte multinationale Ölunternehmen verstaatlicht wird. Die Kämpfe der Gewerkschaft sind seit jeher geprägt durch eine Reihe von paramilitärischen und staatlichen Attentaten und Drohungen. Doch auch psychische Gewalt durch Mobbing sind Probleme, denen die Gewerkschafter:innen täglich ausgesetzt sind.

Die zweite Woche führte uns nach Medellin, die zweitgrößte Stadt des Landes. Dort waren wir mit den Genoss:innen von Sintrahgm verabredet, einer von zwei Gewerkschaften, die die 2200 Beschäftigten des „Hospital General De Medellin“ vertreten. In ihrer 42-jährigen Geschichte haben sie schon viel erkämpft. Das erste Mal sehen wir ein eigenes Gewerkschaftsbüro und Freistellungen für Gewerkschaftsarbeit. Auch einen LGBT-Repräsentanten gibt es und sein besonderes Anliegen ist die Gleichstellung von Kolleg:innen mit Diskriminierungserfahrungen und der Zugang von Suchtkranken und Obdachlosen zur Krankenhausversorgung. Hier konnte schon viel erreicht werden. Doch der Kampf hört nicht auf. Aktuelle Herausforderungen sind die 677 Werkverträge und die 12-Stunden-Schichten, die die Genoss:innen abschaffen möchten.
Einmal durften auch wir Gastgebende sein und gemeinsam mit dem kolumbianischen Gewerkschaftsdachverband CUT Antioquia eine Tagesveranstaltung zur anstehenden Arbeitsreform durchführen, die von der Hans-Böckler-Stiftung unterstützt wurde. Mit über 60 Teilnehmenden aus unterschiedlichen Gewerkschaften wurde die Arbeitsreform in verschiedenen Workshopgruppen im Hinblick auf Arbeitszeit, Gewerkschaftsrechte/-schutz und Vertragsverhältnisse abgeklopft. Im ersten Schritt wurden dazu Gesetzestexte gewälzt und kritisch diskutiert. Anschließend wurden die erarbeiteten Positionen dem Plenum vorgestellt. Am Ende des Tages kamen wir in einen regen internationalen Gewerkschaftsaustausch über Visionen solidarischer Zusammenarbeit.

Ein weiteres sehr bewegendes Treffen führte uns in das in den Anden gelegene Dorf Santa Barbara. Hier wartete der Vorsitzende der Zementgewerkschaft Sindicato Sutimac, Alveiro Mesa, auf uns. Als er davon hörte, dass eine kleine Gewerkschaftsdelegation aus Deutschland kommt, bekam er Gänsehaut, teilt er uns mit, und auch, dass unser Besuch die Gedenkarbeit aufwertet. Was ist passiert?
1946 hat sich die Gewerkschaft in Santa Barbara gegründet und für die Arbeiter der Mine gekämpft, in der sie unter sehr schlechten Bedingungen Material für die Herstellung von Zement abbauten. 1962 gab es erste Tarifverhandlungen und es kam zu einem 60-tägigen Streik. Der Streik war im ganzen Land zu spüren, denn es gab damals nur drei Zementwerke und Baumaßnahmen gerieten durch den Streik ins Stocken. Der damalige Arbeitsminister und spätere Präsident Belisario Bedancur befahl der Armee am Morgen des 23. Februar 1963, Zement aus der Fabrik zu holen und dabei keine Rücksicht auf die Streikenden zu nehmen. Die Streikenden wichen nicht von der Straße und auch die Bevölkerung der Gemeinde schloss sich dem Streik an. Die Armee schoss und ging mit Bajonetten auf die Menge los. In Folge dessen wurden elf Menschen getötet, darunter auch ein Mädchen. 48 Menschen wurden verletzt und 80 inhaftiert. Bis heute, nun mittlerweile 60 Jahre, kämpft die Gewerkschaft dafür, dass das Massaker als staatliches Verbrechen anerkannt wird.

Unser letztes Treffen führt uns zu Periferia, einer unabhängigen Zeitung, die seit über 20 Jahren versucht, Journalismus aus der Peripherie, den weniger sichtbaren Bereichen, zu betreiben. Vor allem werden Probleme und soziale Kämpfe des Landes und insbesondere der vielen abgehängten ländlichen Gebiete thematisiert. Kolumbien war im Jahr 2022 laut Reporter ohne Grenzen hinsichtlich Pressefreiheit auf Platz 145 und die Medienlandschaft ist dominiert von wenigen großen Oligarchenfamilien. Auch Periferia wurde in der Vergangenheit mit Drohungen und Einschüchterungsversuchen konfrontiert.
Wir danken Respekt! für die Unterstützung unseres Vorhabens! Unsere Netzwerkreise war nur ein erster Aufschlag. Das Interesse für einen längerfristigen Austausch ist beidseitig groß. Kampf gegen Gewerkschaftsrepression, soziale Ungleichheit, politische Bildung und Transformation sind Themen, über die sich die kolumbianischen Kolleg:innen weiter auszutauschen wünschen: „Es ist wichtig, sich weltweit zu vernetzen, um globale Entwicklungen aufzudecken, praxisbezogen voneinander zu lernen und sich zu unterstützen.“ Wir bleiben dran und bringen unsere Erfahrungen und unser erlangtes Wissen mittels kleinerer Vorträge den gesamten Sommer über nach Deutschland. Auch ein erster Rückbesuch der kolumbianischen Kolleg:innen ist bereits in Planung.
Bericht von Susann Grieger
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